SÜDWESTRUNDFUNK
SWR2 Aula -
Manuskriptdienst
(Abschrift
eines frei gehaltenen Vortrags)
Gesund
und gleichzeitig krank
Ein
Plädoyer gegen den Fitness- und Wellnesswahn
Autor: Dr. Manfred Lütz *
Redaktion: Ralf Caspary
Sendung: Sonntag, 29.
August 2004, 8.30 Uhr, SWR 2
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Bei den Recherchen zu
meinem Buch habe ich beim deutschen Fitness-Studio-Verband angerufen, und da
teilte man mir mit, dass im Jahr 2000 die Zahl der Fitness-Studio-Mitglieder in
Deutschland auf 4,59 Millionen hochgeschnellt ist (von etwa 100.000 im Jahr
1980). Die Deutsche Bischofskonferenz sagte mir, dass im gleichen Jahr die Zahl
der katholischen Sonntags-Gottesdienst-Besucher auf 4,42 Millionen
zurückgegangen ist. Die Gesundheitsreligion hat zumindest die katholische
Variante des Christentums bei uns überholt, wobei es natürlich große
Schnittmengen gibt: Pfarrer im Fitness-Studio usw.
Das Interessante ist:
alle Welt redet von Gesundheit. Aber keiner weiß eigentlich genau, was das ist.
Was Krankheiten sind, das weiß man einigermaßen. Aber was ist eigentlich
Gesundheit?
Der “innere Mediziner³
Gross, Nestor der inneren Medizin in Deutschland, (Gross/Schölmerich: Das
Lehrbuch der inneren Medizin), hat einmal sehr schön gesagt: “Ob Jemand gesund
ist, hängt davon ab, wie viele Untersuchungen man macht. Macht man fünf
Untersuchungen, sind 90 Prozent gesund, macht man zehn Untersuchungen, sind
noch 80 Prozent gesund, macht man 20 Untersuchungen, noch 36 Prozent³. Er hat
das genau untersucht.
Macht man 50
Untersuchungen, hat Jeder irgendeinen pathologischen Wert, so dass man zu dem
Ergebnis kommt: Gesund ist eine Person, die nicht ausreichend untersucht wurde.
Die Weltgesundheitsorganisation, die für derlei Fragen eigentlich zuständig
ist, hat Gesundheit vor einigen Jahrzehnten folgendermaßen definiert:
Gesundheit sei “völliges körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden³.
Wenn wir mal davon ausgehen, dass wir uns sozial wohlbefinden, wenn wir eine
Millionen Euro auf dem Konto haben und andererseits hoffen, dass Millionäre
alle psychische Probleme haben, ist unter dieser Definition niemand wirklich
gesund.
In meiner Not habe ich einmal einen alten Hausarzt
aus der Eifel gefragt: “Sagen Sie mal, 40 Jahre am Patienten was ist aus
Ihrer Sicht eigentlich gesund?³. Und da hat er mir gesagt: “Wissen Sie, Herr
Kollege, gesund ist ein Mensch, der mit seinen Krankheiten einigermaßen glücklich
leben kann.³ Und das scheint mir viel näher an der alten hippokratischen
Tradition der Medizin zu sein. Für Hippokrates gab es nicht Krankheit oder
Gesundheit. Für Hippokrates gab es den individuellen leidenden kranken
Menschen.
Hans Georg Gadamer, Nestor der Philosophie in
Deutschland hat kurz vor seinem Tod ein Büchlein publiziert mit dem Titel:
“Über die Verborgenheit der Gesundheit³. Und in diesem Büchlein weist er von
den Griechen her argumentierend darauf hin, dass für die Griechen Gesundheit
ein Geheimnis war, ein Göttergeschenk, das gestört werden konnte durch
Krankheiten. Diese Störungen zu beseitigen, das war die Aufgabe der Ärzte,
damit dann wieder jene geheimnisvolle Kraft der Gesundheit wirken konnte, für
die man den Göttern nur danken konnte.
Das ist aber weit weg vom heutigen
Gesundheitsbegriff. Gesundheit gilt wie alles in unserer Gesellschaft als
herstellbares Produkt. Man muss was tun für die Gesundheit. Von nichts kommt
nichts. Wer stirbt, ist selber schuld. Und so rennen die Leute durch die
Wälder, essen Körner und Schrecklicheres und sterben dann doch.
In diesem Zusammenhang ist mir aufgefallen, dass
inzwischen wirklich alle Phänomene der Religion restlos im Gesundheitswesen
angekommen sind. Wir haben Ärzte als Halbgötter; wir haben Häresien, die mit
inbrünstiger Gläubigkeit geglaubt werden; wir haben eine heilige Inquisition,
die Bundesärztekammer. Blasphemisch kann man heutzutage nur noch im Bereich der
Gesundheitsreligion sein. Über Jesus Christus kann man in unserer Gesellschaft jeden
albernen Scherz machen. Aber bei der Gesundheit, da hört der Spaß auf.
Ich habe z. B. einen guten Freund, links-rheinischer
Pfarrer. Mit ihm stehe ich neulich vor seiner Kirche, er geht zur Kirchentür
zurück, macht die Kirchentür zu, kommt wieder zu mir, zündet sich eine
Zigarette an mit der Bemerkung “Er muss ja nicht alles sehen³, zieht den Rauch
tief in die Lunge ein und macht in die Ferne schauend die nachdenkliche
Bemerkung “warum soll meine Lunge eigentlich älter werden als ich?³.
Meine Damen und Herren, wenn Sie eine solche
Bemerkung in einem entsprechend gesundheitsreligiös bewegten Kreis machen,
haben Sie mit allen Reaktionen zu rechnen, die im Mittelalter auf
Gotteslästerung standen. “Das können Sie doch nun wirklich nicht sagen! Wenn
das Jemand mit Bronchialkarzinom hört!³ Oder die Bemerkung “Wer früher stirbt,
lebt länger ewig³, die theologisch völlig präzise ist, führt in gewissen
Kreisen zu blankem Entsetzen. Ich habe neulich einen Artikel im
Wissenschaftsteil der Süddeutschen Zeitung gelesen über japanische Studien mit
Würmern, nämlich dass Würmer Diät leben. Also Würmer, die quasi nichts essen
oder nur Körner, werden wahnsinnig alt und man sei jetzt dabei, das aufs
Menschenmodell zu übertragen. Aber wenn ich mir als Rheinländer vorstelle, ich
dürfte quasi nichts mehr essen und wenn überhaupt, dann nur Körner, und könnte
dann noch nicht mal sterben, das wäre für den Rheinländer die konkrete
Beschreibung der Hölle. Aber heute gilt das als großer wissenschaftlicher
Fortschritt.
Fitness-Studios entstehen an den Stellen, wo früher
Marienkapellen entstanden, nämlich an Wegekreuzen. Jeder durchschnittliche
Hausarzt kann einem durchschnittlichen AOK-Patienten Bußwerke auferlegen, das
sind Lebensregeln von morgens bis abends: wann man morgens aufzustehen hat,
wann man abends ins Bett zu gehen hat, wo das Bett zu stehen hat wegen der
Erdstrahlen, was man zu essen hat und vor allem die große Liste, was man nicht
zu essen hat. Dagegen ist die Benediktiner-Regel der reinste Schlendrian. Und
der Ausdruck Sünde kommt bei uns auf der Kanzel weder in der evangelischen
Kirche noch in der katholischen Kirche noch vor. Beobachten Sie selbst mal,
liebe Hörerinnen und Hörer, wo der Ausdruck Sünde Ihnen noch begegnet. Ich sage
es Ihnen: meistens im Zusammenhang mit Sahnetorte. “Da habe ich mal wieder ein
bisschen gesündigt³, “kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort³.
Ein Architekt hat einmal die Krankenhäuser “die
Kathedralen des 20. Jahrhunderts³ genannt, und insofern ist das Aachener
Klinikum sozusagen der Petersdom Europas. Und in diesen Kathedralen finden
eherne Riten statt. Wir beobachten bei uns im katholischen Rheinland den
bruchlosen Übergang von der katholischen Prozessionstradition in die
Chefarztvisite. Die Chefarztvisite ist ähnlich wie die katholische Prozession
völlig zwecklos, aber höchst sinnvoll. Zwecklos ist sie deswegen, weil ein
Chefarzt die Information viel besser kriegt, wenn er in die Kurve schaut oder
den Assistenzarzt fragt. Aber nein, der Ritus muss sein, der Patient erwartet
das “War der Chef schon da?³ und schon entspinnt sich die Prozession, voran
die Schwesterschülerinnen als Ministrantinnen, dann die Schwestern, dann die
Stationsschwester mit der heiligen Schrift, der Kurve des Patienten, die
Assistenzärzte, der Oberarzt und schließlich Er der Chef.
Der Chef ist meistens schon etwas älter, nicht mehr
so orientiert in seinem Fach, kann aber seine Rechnungen noch gut lesen und
wirkt vor allem sehr würdevoll. Im ersten Zimmer wird ihm der Name des ersten
Patienten zugeflüstert man kann ja mal was vergessen -, und dann kommt es zum
Höhepunkt der Chefvisite, der Chefarzt wird sakralsprachlich. Die
Sakralsprachen Griechisch und Latein sind aus dem katholischen Gottesdienst
weitgehend entschwunden, aber in der Gesundheitsreligion sind sie wahnsinnig
wichtig. Ein Chefarzt, den man komplett versteht, gilt als inkompetent. Und zum
Höhepunkt der Chefvisite sagt der Chefarzt zum Oberarzt: “Wissen Sie, Herr
Kollege, ich halte das doch am ehesten für eine ideopathische Störung³. Der Chefarzt
hat “ideopathisch³ gesagt. Der Patient ist tief ergriffen, der Chefarzt schwebt
aus dem Zimmer und schon ist der Patient am Telefon, ruft zuhause an und sagt:
“Friedchen, er hat ideopathisch gesagt. Kannst du mal im Gesundheitslexikon
nachgucken, was das eigentlich heißt?³. Friedchen geht ans Gesundheitslexikon,
kommt zurück und sagt: “Ideopathisch heißt, wir wissen nicht, woran es liegt.³
Und deswegen rate ich immer dringend von der Anschaffung von Gesundheitslexika
ab, weil sie den Placebo-Effekt verhindern.
Das Ganze hat aber dann sehr ernste politische
Konsequenzen. Mein Buch ist in Berlin vorgestellt worden von Helmut Karasek,
von Friedrich Merz von der CDU/CSU und Monika Knoche von den GRÜNEN, weil es
ein hochpolitisches Thema ist. Wenn nämlich Gesundheit tatsächlich, wie alle
Welt sagt, das höchste Gut wäre, dann wäre maximale Diagnostik und maximale
Therapie für jeden Einzelnen von uns absolute Pflicht der Gesellschaft und des
Staates. Das wäre erstens die Hölle für uns alle, wir kämen aus der Röhre gar
nicht mehr raus; und zweitens wäre es natürlich der sofortige finanzielle
Zusammenbruch des Gesundheitswesens. Dennoch darf kein Politiker, der noch
gewählt werden will, im Gesundheitsbereich für irgendwelche Einsparungen sein.
Man darf höchstens für Effizienzsteigerungen sein, aber Einsparungen im
Gesundheitsbereich sind politisch absolut tödlich. Und so treibt der
Riesentanker Gesundheitswesen vor sich hin und beim Blick auf die
Kommandobrücke stellt man fest, dass sie leer ist. Niemand steuert das
Gesundheitswesen. Der Kanzler schickt ab und zu Ulla Schmidt rauf zum Putzen,
aber ans Steuerrad darf sie nicht. In der Kajüte wird “Schwarzer Peter³
gespielt und die üblichen Verdächtigen werden verhaftet (Methode Casablanca:
“Verhaften Sie die üblichen Verdächtigen!³), die angeblich schuld sind: die
Pharmaindustrie, die Ärzte, die Apotheker, die Krankenhäuser, die
Krankenkassen, die Politiker.
Meine Damen und Herren, es sind aus meiner Sicht auch
nicht die Politiker schuld. Jede demokratische Gesellschaft hat die Politiker,
die sie verdient. Und solange wir in allen Geburtstagsreden von Flensburg bis
Passau Gesundheit als höchstes Gut preisen, müssen wir uns nicht wundern, dass
Gesundheitspolitik de facto seit etwa 20 Jahren nicht mehr stattfindet. Politik
ist nämlich die Kunst des Abwägens. Ein höchstes Gut kann man nicht abwägen.
Dafür muss man alles tun.
Diese ganze Gesundheitsreligion erfasst natürlich
auch irgendwie das ganze Leben wie jede gute andere Religion. Es gibt Menschen,
die leben überhaupt nicht mehr, die leben von morgens bis abends nur noch
vorbeugend und sterben dann gesund. Aber auch wer gesund stirbt, ist definitiv
tot.
Es gibt Sendungen, die man abends sehen kann, wie
Gesundheitsmagazine, wo man feststellen kann, dass man sich möglicherweise
Jahrzehnte lang fälschlicherweise gesund gefühlt hat, obwohl man es gar nicht
war. Sie kennen vielleicht diese Tragödie, dass Jemand sich fälschlicherweise
50 Jahre lang quietschvergnügt fühlt, ein Gesundheitsmagazin sieht und erkennt
“mein ganzes Leben war ein Irrtum!³. Am nächsten Morgen ist er beim Hausarzt,
und was passiert, wenn man zu viel untersucht wird, das habe ich am Anfang
gesagt.
Dann gibt es natürlich einen Schönheitskult: schön,
gesund und Wellness, das gilt irgendwie als Eins. Schönheit wird heute nicht
mehr über Anmut definiert, sondern über den Hautbefund. Schön ist junge,
knackige, leicht gebräunte Haut. Das gilt allgemein als schön. Es gibt
bestimmte Fernseh-Sendungen, in denen nur noch solche Leute vorkommen. Aber mit
dem Hautbefund ist das so eine Sache. Wir haben in der Dermatologie-Vorlesung
gelernt, dass die Haut bis zum 18. Lebensjahr hässlich ist: Pickel. Und ab dem
23. Lebensjahr beginnt bereits die Hautalterung. Zwischen 18 und 23 hat man
meistens Liebeskummer und kann das überhaupt nicht genießen. D. h. das ganze
Konzept ist eine einzige Anleitung zum Unglücklich-Sein. Man ist das ganze
Leben lang damit beschäftigt, einen Hautbefund vorzutäuschen, den man überhaupt
nicht hat. Sie kennen ja vielleicht den Kalauer: “Ihre Frau sieht immer noch so
aus wie vor 20 Jahren.³ “Ja, aber es dauert länger.³ Da geht wahnsinnig viel
Zeit und Geld hinein. Und auch bei Männern ist es heute üblich, dass der
70jährige Gigolo seinen Schönheitschirurgen inzwischen duzt und nur unangenehm
bei der Beerdigung von Gleichaltrigen auffällt, weil er das Lächeln nicht mehr
aus dem Gesicht bekommt. Das ist nämlich einoperiert.
Das Ganze, meine Damen und Herren, hat aber dann sehr
ernste ethische Konsequenzen. Wenn nämlich der gesunde Mensch der eigentliche
Mensch ist, dann ist der kranke, vor allem der nicht mehr heilbar kranke, der
behinderte ein Mensch zweiter oder dritter Klasse. Die Gesundheitsreligion hat
inzwischen ihren eigenen Fundamentalismus entwickelt. Das ist die Ethik des
Heilens.
Die Ethik des Heilens ist das Ende der Ethik. Die
Ethik war einmal der argumentative kontroverse wissenschaftliche philosophische
Diskurs über Moral. Das nannte man Ethik. Sobald heute aber Jemand “Ethik des
Heilens³ sagt, ist Ende der Debatte. Dann wird es sakral. “Wollen Sie etwa
einem muskoviszidose-kranken Kind erklären, aus welchen absurden ethischen
Gründen Sie nicht helfen wollen?³, so der ehemalige deutsche Bundespräsident
Roman Herzog. Wenn Sie sagen, dass die scheinbar so absurden ethischen Gründe sind,
dass man einen Menschen am Beginn seiner Existenz, einen Embryo, opfert, um
einen anderen Menschen zu heilen, gelten Sie als zynisch. Das Ganze wurde im
Zusammenhang mit den embryonalen Stammzellen immer wieder erwähnt. Und man hat
behauptet, dass man über diese Forschungen irgendwann Parkinson heilen könnte.
Ich bin auch Neurologe und weiß sehr gut, dass das sehr unwahrscheinlich ist.
Aber es war damals ein sehr guter Werbegag. Wenn morgen Abend in der ARD ein
Film käme über eine solche gelungene Heilung Parkinson-Patient vor der
Therapie sich nicht mehr bewegen könnend, im Bett liegend und dann nach der
Therapie Tennis spielend -, meine Damen und Herren, das wäre das Ende der
Debatte über embryonale Stammzellen in Deutschland.
Wer heilt, hat Recht. Dieser eigentlich sehr gute
medizinische Grundsatz wird heute ethisch zynisch. Und auch am Ende des Lebens
kann man inzwischen einem Menschen, den man nicht mehr heilen kann, sozusagen
einen guten Tod vermitteln (euthanatos = ein guter Tod), wie das in Holland und
Belgien inzwischen gesetzlich möglich ist. Die holländische Regierung lässt
jedes Jahr Umfragen machen, die feststellen, wie dieses Gesetz sich auswirkt.
Man weiß, dass etwa 250 Niederländer pro Jahr getötet werden, obwohl sie noch
bei vollem Bewusstsein sind, und ohne zugestimmt zu haben. Das ist zwar gegen
die Gesetzeslage, aber wenn der Damm mal gebrochen ist, dann passiert so etwas,
und es kommt überhaupt nur heraus, weil diese Befragungen anonym sind. D. h.
ich glaube, das Menschenbild unserer Gesellschaft hat sich inzwischen
verändert. Ein Mensch, den man nicht mehr heilen kann, gilt als ein Mensch
zweiter Klasse.
Deswegen glaube ich, dass die Gesundheitsreligion -
ganz im Ernst - für das Menschenbild heute eine ganz entscheidende Bedeutung gewonnen
hat. Und das ist ein anderes Menschenbild als das der Menschenrechtserklärung
der Vereinten Nationen oder das Menschenbild unseres Grundgesetzes. Ich glaube,
dass das, was ich eingangs satirisch gesagt habe, inzwischen durchaus in einer
geradezu totalitären Weise beherrschend ist. Und ich glaube, dass Vieles von
dem, was ich satirisch dargestellt habe, unsatirisch gesagt geradezu
erschreckend wirken würde.
Ich habe den Vortrag über dieses Buch auch im Osten
Deutschland häufiger gehalten. Man hat mir bestätigt, dass man in totalitären
Systemen und die Gesundheitsgesellschaft ist ein solches totalitäres System
im Grunde die Wahrheit nur noch satirisch sagen kann. Und dann gibt es
natürlich ein Problem für uns Rheinländer: Die Gesundheitsreligion ist völlig
humorlos. Es gibt höchstens inzwischen Lachgruppen, wo Menschen systematisch
lachen, weil Lachen angeblich gesund ist. Für Rheinländer eine schreckliche
Vorstellung. Und dann gibt es solche Ideen wie das Bonus-Malus-System. D. h.
wenn Jemand auf Kosten der Solidargemeinschaft ungesund lebt, raucht, säuft und
auch sonst ein schlechter Mensch ist, der soll mal gefälligst mehr
Krankenkassenbeiträge zahlen als Jemand, der Körner isst, durch die Wälder
rennt und auch sonst nicht viel Freude am Leben hat.
Meine Damen und Herren, im ersten Moment mag das
plausibel wirken, aber es gibt zwei kleine Probleme dabei. Erstens: Wie wollen
Sie das kontrollieren? Wie wollen Sie kontrollieren, ob der Bankdirektor Meier
nicht abends heimlich hinter dem Rhododendron-Busch im Stadtpark raucht? Wie
wollen Sie kontrollieren, ob der leitende Angestellte Müller nicht abends
heimlich eine Rotweinflasche neben seiner Mülltonne immer leerer werden lässt?
Sie werden von Ihrer Krankenkasse verpflichtet werden, Rauchmelder auf dem Klo
anzubringen. Hinter dem Rhododendron-Busch im Stadtpark wird eine Kamera
angebracht sein. D. h. wir werden den totalen Gesundheitsüberwachungsstaat
bekommen.
Und ein zweites Argument gegen das Bonus-Malus-System
hörte ich neulich von einem Wissenschaftler, der erzählte, er habe die gesamte
Weltliteratur auf die Frage hin untersucht, ob eigentlich ein gesundes Leben zu
weniger Krankheitskosten führt. Es gibt international keine einzige valide
Studie, die das beweist. Im Gegenteil gibt es gewisse Hinweise, dass Jemand,
der mit 41 Jahren am Bronchialkarzinom verstirbt, damit die Solidargemeinschaft
weniger kostet. Denn er hat all die teuren Alterskrankheiten nicht; die
Pflegeversicherung, die auch eine Solidargemeinschaft ist, muss er nicht in
Anspruch nehmen; und er braucht auch keine Rente in Anspruch nehmen. D. h.
möglicherweise ist es so, dass Jemand, der ungesund lebt, raucht, säuft und
auch sonst ein schlechter Mensch ist, die Solidargemeinschaft schont! Und wenn
das ernst genommen würde, müsste Jemand, der das nachweisen kann, weniger
Krankenkassenbeiträge zahlen! Damit wird deutlich, das ökonomische Argument ist
nur vorgeschoben.
Es handelt sich in Wirklichkeit um einen
volkspädagogischen Ansatz. Man möchte die Deutschen zwingen, gesund zu sein.
Ich halte ja ohnehin die Deutschen für ein Volk von Lehrern, durch
unterschiedliche Berufe nur verkleidet, und das erkennt man an einem solchen
Problem.
Und dann gibt es einen ganz wichtigen Ausdruck, der
in keiner Festrede, in keinem Krankenhaus fehlen darf: Ganzheitlichkeit.
“Dieses Krankenhaus ist ein ganzheitliches Krankenhaus, hier ist der Herr
Müller nicht die Galle von Zimmer 5, nein, hier ist der Herr Müller der Herr
Müller von Zimmer 5 mit seiner ganzen Lebensgeschichte, seinen Seelenproblemen
usw.³. Beifall, Büfett. Das ist das Übliche. Das geht dann meistens gegen die
Chirurgen, die mit Messern in bewusstlose Leute hinein schneiden und mit ihnen
angeblich nicht reden.
Aber dieser Aspekt der Ganzheitlichkeit ist ein
Anspruch, den wir gar nicht erfüllen können. Wenn ich im Krankenhaus operiert
werden soll, dann möchte ich nicht einen ganzheitlichen Kollegen, der
einfühlsam mit mir redet, dann möchte ich einen Chirurgen, der wirklich
technisch perfekt operiert. Dann möchte ich sehr gerne die Galle von Zimmer 5
sein, damit man mir nicht irgend etwas anderes heraus nimmt, was ja auch schon
passiert sein soll. Diese Ganzheitlichkeit überfordert nämlich alle
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Krankenhaus. Insbesondere Krankenschwestern
klagen, sie haben viel zu wenig Zeit für Gespräche mit Patienten. Diese Klage
ist üblich, da bekommt man immer Beifall. Aber ich meine, die Gespräche, die in
der Familie, mit Freunden, mit den Nachbarn nicht mehr geführt werden, die kann
jetzt nicht die Krankenschwester führen. Und deswegen glaube ich, dass das
Gesundheitswesen inzwischen eine Rolle einnimmt, die es gar nicht erfüllen
kann. Über Grenzsituationen menschlicher Existenz, wie Carl Jaspers sie nennt,
hat der junge Assistenzarzt eigentlich überhaupt keine Lebenserfahrung. Was
Leiden und Sterben bedeutet, das weiß ein altes Mütterchen aus der Eifel viel
besser als ein junger Assistenzarzt, der gerade mal ein EKG ableiten kann. So
dringt leise durch den ganzen Gesundheitstrubel der Satz des großen dänischen
Philosophen Sören Kierkegaard, der einmal gesagt hat: “Der Spaß eines Menschen,
Leben für einige Jahre zu retten, ist nur Spaß. Der Ernst ist selig Sterben.³
Die totale Heilssehnsucht der Menschen produziert
heute eine totale Pathologisierung und Frustration. Wir leisten uns gewaltige
Verdrängungsapparaturen, sprechen von einer medizinischen Überversorgung und
einer emotionalen Unterversorgung. Je mehr Krankheiten wir bekämpfen, desto
mehr chronische Krankheiten kommen heraus. Wir bekämpfen nicht den Krebs, sondern
wir bekämpfen den Tod, denn den Krebs gibt es gar nicht. Es gibt nur
verschiedene Formen pathologischer Zellalterung. Aber alle Welt spricht vom
Kampf gegen den Krebs. Das aber ist ein religiöses Thema. Das Tragische ist, um
den Tod zu vermeiden, nehmen wir uns das Leben. D. h. wir nehmen uns
unwiederholbare Lebenszeit, um den Tod zu vermeiden und sterben dann doch.
Es könnte so scheinen, als wäre ich der Auffassung,
Gesundheit sei völlig unwesentlich. Hier muss ich Ihnen aber in gewisser Weise
einen Salto mortale zumuten, denn ich glaube als Arzt, der ich bin, dass
Gesundheit natürlich ein hohes Gut ist. Aber es ist eben nicht das höchste.
Gesundheit ist nicht geeignet zur religiösen Aufladung. Wenn man also eine
seriöse Religion hat, wenn man Christ, Muslim oder Jude ist oder einer
sonstigen seriösen religiösen Orientierung nahe steht, dann kann man gelassener
mit der Gesundheit umgehen. Nicht lässig, aber gelassener. Die Altreligionen
können im Grunde emanzipatorisch wirken gegen die totalitären Zumutungen der
Gesundheitsreligion, denn es gibt auch ein gesellschaftliches Problem bei der
Gesundheitsreligion: Sie ist völlig egoistisch, ähnlich wie die Esoterik. Der
Esoteriker ist nur an seinen Sternen und seiner Zukunft interessiert, und der
Gesundheitsreligiöse interessiert sich für seine Laborwerte und seine
Prognosen. Das macht viele Kämpfe in diesem Bereich so hart, kalt und herzlos.
Ich habe in meinem Buch mal zusammen gerechnet, wenn
man all die Defizit-Zeiten der Gesundheitsreligion, also die Zeiten von
Behinderung, Krankheit, Schmerzen, Leiden, Alter, Sterben, Tod wegrechnet von
der gesamten Lebenszeit, dann bleiben noch 9,82 Prozent der Lebenszeit als
lebenslustfähige Zone. Und in der Zeit muss man noch die Steuererklärung machen
und so lästige Dinge. D. h. Lebenskunst kann eigentlich nur bedeuten, dass man
auch in den Grenzsituationen menschlicher Existenz Quellen des Glücks eines
Lebens findet. Behinderung kann z. B. eine Fähigkeit sein. Demosthenes war der
größte Redner der Antike. Was war das Geheimnis der Redekunst des Demosthenes?
Demosthenes hatte eine schwere Sprachbehinderung und hat mit Steinen im Mund
gegen die Meeresbrandung angebrüllt. Er wurde der größte Redner der Antike.
Homer war der größte Dichter der Antike, wunderschön seherisch in die Ferne
schauend dargestellt. Und was war das Geheimnis der Seherkraft des Homer? Homer
war blind. Die bedeutendsten Sinfonien hat Ludwig van Beethoven komponiert, als
er taub war.
Ich glaube also, meine Damen und Herren, eine
Gesellschaft ohne Behinderte wäre nicht nur eine weniger menschliche
Gesellschaft, nicht nur eine weniger farbige Gesellschaft, sondern auch eine
weniger leistungsfähige Gesellschaft. Krankheit kann auch ein Glücksfall sein.
Mancher Manager, der zum ersten Mal ins Krankenhaus kommt, hat sich überlegt,
“was mache ich eigentlich mit dem ganzen Stress meines Lebens?³ und geht
einen neuen Weg. Marcel Reich-Ranicki hat gesagt “jede gute Literatur hat mit
Leiden zu tun³. Papst Johannes Paul II. hat zu Beginn seines Pontifikats ein
eindrucksvolles Schreiben verfasst mit dem Titel “Salvifici Doloris³ “Über
den Heil bringenden Sinn menschlichen Leidens³. Sehr einfühlsam hat der Papst
darin vom Leiden gesprochen - er hat ja viel pastorale Erfahrung -, und dass
dieser Papst das, was er damals als junger dynamischer Papst schrieb, jetzt
lebt, gehört für mich zum Eindrucksvollsten dieses Pontifikats. Für mich war
die berührendste Szene im Heiligen Jahr 2000, als der alte kranke Papst im Yad
Vashem stand, an der Holocaust-Gedenkstätte in Israel, und wie er da mit
brechender Stimme das Entsetzliche dieses Völkermords zur Sprache brachte. Das
war zutiefst berührend. Auch Alter ist nicht bloß eine Frage der Versorgung.
Setzen Sie mal in einen Artikel über alte Menschen anstatt “alte Menschen³ den
Ausdruck “Kaninchen³. Sie brauchen den Artikel kaum zu ändern. Wie viel
Quadratzentimenter bzw. beim Menschen Quadratmeter pro altem Menschen, wie man
sie versorgt, ihnen Essen gibt usw. Aber dass alte Menschen auch ein Schatz für
die Gesellschaft sind, das geht aus dem Blick. Ein Kapitel meines Buches heißt
“Sterben und Tod als Würze des Lebens oder was ein pompejianisches Bordell mit
dem Heiligen Hieronymus verbindet³. Das bedarf natürlich einer Erklärung: Im
pompejianischen Bordell sind Totenschädel an die Wände freskiert als
Aufforderung “Mensch, denke daran, dass du stirbst und lebe jeden Tag
lustvoll³, “Carpe Diem!³ “Pflücke den Tag!³. Und der Totenschädel beim
Heiligen Hieronymus in der Wüste heißt in gewisser Weise etwas Ähnliches:
“Christ, denke daran, dass du stirbst und leben jeden Tag ganz bewusst³
natürlich nicht im Bordell. Das ist der Unterschied.
Wenn wir unendlich leben würden, dann könnten Sie
jetzt irgend einem Mitmenschen etwas Böses tun und sich sagen “naja, in 500
Jahren werde ich mich wieder entschuldigen³. Einem anderen Menschen könnten Sie
etwas Gutes tun und müssten sich sagen “wie ich mich kenne, in 1000 Jahren
werde ich ihn wieder enttäuschen³. Es wäre alles gleichgültig, es wäre die
totale Langeweile. Platon hat gesagt, “das wäre die Hölle³. Nur dadurch dass
wir sterben, wird jeder Moment unwiederholbar wichtig. Wenn ich jedem von Ihnen
jetzt im Moment sagen könnte, wann er/sie stirbt, dann bin ich sicher, dass Sie
Morgen schon anders leben würden, weil Ihnen klar ist, das ist ein
unwiederholbarer Tag weniger auf der Rechnung. Den kriege ich nie wieder. Nun
ist es aber so, dass wir alle sterben und dass der morgige Tag ein
unwiederholbarer Tag weniger auf der Rechnung ist. Wir leben ja immer in so
einer Videomentalität, als könnte man alles wiederholen. Das ist Voraussetzung
für fröhlichen Atheismus. Nichts kann man wiederholen. Ich glaube, dass, wenn
man den Tod verdrängt, man im Grunde das Leben verpasst. Von daher wo kann
man Lebenslust wirklich erleben? Ich glaube im Bewusstsein der
Unwiederholbarkeit jedes Moments. In Muße, wie die Alten gesagt haben, mal
völlig zwecklos, aber höchst sinnvoll durch den Wald gehen, nicht mit einem
Buch “Mein Wald gehört mir³ und auch nicht aus Gesundheitsgründen und auch
nicht, um seiner Frau zu erzählen, dass man durch den Wald gegangen ist,
sondern diesen unwiederholbaren Moment eines Lebens zu genießen. Oder eine
wunderbare Melodie im Autoradio zu hören im Autobahnstau und nicht gleich zu
fragen “wie kriege ich das auf CD, wie kann ich das wiederholen?³. Nichts
können Sie wiederholen. Jeder Moment ist unwiederholbar. Und sich das bewusst
zu machen ist Voraussetzung für Lust am Leben. Aber auch dass wir uns bewusst
machen, dass wir selbst, jeder Einzelne von uns, unwiederholbar ist.
Es gibt viele Menschen, junge, ältere, die tun immer
das, was man so tut, das was üblich ist. Die sind im Trend. Aber wenn man das
ganze Leben tut, was man so tut, was üblich ist, dann heißt es nachher auf dem
Grabstein “Er lebte still und unscheinbar. Er starb, weil es so üblich war.³
Und das wäre doch enttäuschend.
Die mittelalterlichen Menschen hatten einen
faszinierenden Gedanken. Sie kannten Heiltümer. Das waren Bilder, vor denen man
gesund werden konnte. Ein solches Heiltum ist der Isenheimer Altar in Colmar.
Er stand früher im Antoniterhospital in Isenheim und alle Betten aller Kranken
waren auf dieses beeindruckende Gemälde von Matthias Grünewald gerichtet. Die
Menschen glaubten, wenn man das von morgens bis abends sah, dann konnte man
gesund werden. Und ich glaube wirklich, obwohl ich schulmedizinisch ausgebildet
bin, die mittelalterlichen Menschen hatten Recht. Vor dem Isenheimer Altar in
Colmar kann man gesund werden. Vor dem Isenheimer Altar kann man auch religiös
werden, so wie vor der Assunta von Tizian in Venedig und vor der Pietà von
Michelangelo in St. Peter in Rom.
Ich habe mal eine Fernseh-Diskussion gesehen zwischen
dem marxistischen Philosophen Ernst Bloch und dem katholischen
Existenzphilosophen Gabriel Marcel. Beide alten Männer waren in allem
unterschiedlicher Meinung, aber schließlich konnten sie sich auf eines einigen:
Das Ewige, das Transzendente könne man schon in diesem Leben erleben, und zwar
in der 9. Sinfonie von Beethoven. Und da lächelten die beiden alten Männer, die
bald darauf starben, weil sie noch etwas gefunden hatten, worauf sie sich
einigen konnten. Ich glaube wirklich, wer Sinn dafür hat und die Vespere
Solemnes di Confessore von Wolfgang Amadeus Mozart hört, der erlebt Ewigkeit,
die die Zeit sprengt. Der kann der Welt im Ganzen zustimmen. Und Heinrich
Schipperges, der große Arzt und Philosoph aus Heidelberg, der leider im
vergangenen Jahr gestorben ist, hat einmal gesagt: “Um gesund zu sein, muss man
der Welt im Ganzen zustimmen³.
*****
* Zum Autor:
Manfred Lütz, geboren 1954, Studium der
Humanmedizin, katholischen Theologie und Philosophie, 1979 Approbation als
Arzt, danach Diplom in katholischen Theologie; 1989 Facharzt für
Nervenheilkunde, 1991 Facharzt für Psychiatrie; seit 1997 Chefarzt des
Alexianer-Krankenhauses in Köln.
Bücher:
- LebensLust. Wider die Diät-Sadisten,
den Gesundheitswahn und Fitness-Kult. Pattloch.
- Der blockierte Riese, Psycho-Analyse
der katholischen Kirche. Pattloch.
Lebenslust
Wider die Diät-Sadisten, den
Gesundheitswahn und den Fitness-Kult
Lütz,
Manfred
CHF
26,80
deutsch 2002, 208 S.
ISBN 3-629-01639-1
Pattloch
Verlag im Weltbild, Augsburg